Was geschah damals im Dschungel?

Tages-Anzeiger
Philippe Zweifel

Aus seiner Wohnung schaut Rainer Stamm über die beschauliche Landschaft von Stein am Rhein. «Niemand weiss, was damals im Dschungel passiert ist», sagt der pensionierte Spediteur über seinen Bruder Markus. Vor 37 Jahren verschwand der Schaffhauser Lehrer im bolivianischen Urwald. Vielleicht verhungerte er, vielleicht wurde er von einer Schlange erwürgt oder einem Jaguar gefressen. Im Amazonasgebiet gibt es tausend Arten zu sterben.
Kürzlich hat Hollywood die Geschichte von Stamm und seinen Gefährten spektakulär verfilmt. «Jungle» lief in der Schweiz trotz guten internationalen Kritiken nicht im Kino, inzwischen ist der Film auf DVD erhältlich. Darin ist «Harry Potter»-Darsteller Daniel Radcliffe zu sehen, er spielt den israelischen Backpacker Yossi Ghinsberg. Der Film, der Markus Stamm gewidmet ist, beruht auf Ghinsbergs Bestseller «Dem Dschungel entkommen».
«Jungle» schildert in drastischen Szenen, wie die Natur dem Menschen die Grenzen aufzeigt. Allemal krasser ist die Wirklichkeit, die Geschichte von Stamms Verschwinden ist eine von Schuld und Schicksal. «Wenn ich Karl an jenem Morgen in La Paz nicht begegnet wäre», erinnert sich Ghinsberg im Buch, «würde der arme alte Markus immer noch leben.»
Karl, das ist der Österreicher Karl Ruprechter: Ein zwielichtiger Abenteurer, der Ghinsberg im November 1981 von einer Gegend im Dschungel erzählte, wo Gold und Edelsteine zu finden seien. Der Israeli überredete Stamm, den er zuvor auf einer Fähre kennen gelernt hatte, zur Mitreise. Auch Stamms langjähriger Freund, der «Time»-Fotograf Kevin Gale, schloss sich der Gruppe an.

**Ihn trieb der Liebeskummer**
Stamm hatte anfänglich Zweifel, der 28-Jährige wurde auf der Schweizer Botschaft in La Paz vor dem Trip gewarnt. Die Regenzeit stand kurz bevor. Doch wer jung ist und mit dem Rucksack aufbricht, tut dies meistens nicht nur aus Abenteuerlust. Manche suchen die Einsamkeit, andere das Paradies. Kevin Gale wollte ein unentdecktes Indianervolk fotografieren, Yossi Ghinsberg war vom Goldfieber gepackt. Und Markus Stamm versuchte, seine langjährige Freundin zu vergessen. Diese hatte ihn in Südamerika besucht und mitgeteilt, dass sie einen anderen Mann liebe.
Einige Tage später sassen die drei jungen Männer in einem Buschflugzeug, das den Bergflanken der Anden entlang den üppig grünen Boden des oberen Amazonasbeckens ansteuerte, wo ihr Fussmarsch begann. Der Urwald erschien als farbig-faszinierendes Paradies. Doch mit jedem Tag wurde er dichter und undurchdringlicher, als wolle die Natur die Eindringlinge fernhalten. «Der Dschungel führt einen in die Finsternis des eigenen Herzens», raunt Ruprechter in Ghinsbergs Buch.
Zumindest für Ghinsberg trat diese Warnung ein. Mit 21 war er der Jüngste der Gruppe und von einem übermütigen Ehrgeiz getrieben, der dem sanftmütigen Wesen des Schweizers zuwiderlief. Als der Proviant knapp wurde, erschoss Ruprechter einen Affen, und die Gruppe ass ihn mitsamt Gehirn. Stamm verzichtete auf das Fleisch und empörte sich. «Kevin und ich konnten nicht anders, als ihn im Stillen auszu­lachen», schreibt Ghinsberg. Die unausgesprochene Feindseligkeit wuchs – erst recht, als ein Pilz Markus Stamms Füsse befiel und er kaum mehr gehen konnte. Gleichzeitig begannen die Männer an ihrem Führer zu zweifeln, denn nach fünf Tagen hätten sie den sagenumwobenen Indianerstamm längst erreicht haben sollen. Ihr Proviant war ausgegangen, die Schuhe fielen auseinander. Ghinsberg wollte weitermachen, wurde aber von den anderen zur Rückkehr gezwungen. In einem Eingeborenendorf bauten sie ein Floss, um den Tuichi-Fluss zu einem Dschungel-Flugfeld runterzufahren.

**Totenkopf mit Schweizer Béret**
Der Fluss war noch gefährlicher als der Urwald. Das Wasser stieg bedrohlich, mehrere Male drohte das Floss zu kentern. Ruprechter, der nicht schwimmen konnte, weigerte sich weiterzufahren. Stamm, von seinen Freunden entzweit, schloss sich ihm an. Zu Fuss machten sie sich entlang des Fluss-Canyons durch den Dschungel zurück.
Kaum allein, gerieten Ghinsberg und Gale in Wildwasser. Das Floss kenterte, die beiden wurden getrennt. Ghinsberg irrte während 21 Tagen durch den Dschungel. Blutegel saugten sich an ihm fest, Würmer nisteten sich in einer Stirnbeule ein, Pilze befielen seinen ganzen Körper. Einmal wachte er im nächtlichen Dschungel im Angesicht eines Jaguars auf, am anderen Tag rutschte er einen Abhang hinunter und schlitzte sich den Anus auf. Als er, völlig abgemagert, seinen verzweifelten Überlebenskampf schon aufgegeben hatte, war das Dröhnen in seinem Kopf keine Halluzination mehr, sondern der Lärm eines Motorboots. Kevin Gale, der nach einer Woche von eingeborenen Jägern gefunden worden war, hatte trotz minimalen Erfolgschancen eine Suchaktion gestartet.
Zurück in der Zivilisation, wollten sich Ghinsberg und Gale mit ihren Gefährten treffen. Doch von Stamm und Ruprechter fehlte jede Spur. Suchtrupps kamen ohne Hinweise zurück. «Das war der Zeitpunkt, als wir vom Aussendepartement kontaktiert wurden», sagt Rainer Stamm in Schaffhausen. «Markus sei im Amazonasgebiet verschollen, wir sollten uns keine Hoffnungen machen.»
Dass Karl Ruprechter nicht mehr auftauchte, war besonders rätselhaft. Er kannte den bolivianischen Dschungel. Hatte Ruprechter etwas mit Markus Stamms Verschwinden zu tun? Inzwischen war bekannt geworden, dass er als verurteilter politischer Aktivist aus Österreich geflüchtet war. Hatte er im Dschungel seinen Tod vorgetäuscht, um in Peru, wo ein Priester ihn gesichtet haben will, eine neue Identität anzunehmen? Doch eine Suche, die Ghinsberg für die Familie Stamm unternahm, verlief erfolglos. Dann versetzte sie ein in Bolivien aufgefundener Totenkopf mit einem Schweizer Béret in Aufregung. Die Kieferanalyse war allerdings negativ.

**Den Film zufällig entdeckt**
Er habe den Tod seines Bruders inzwischen akzeptiert, sagt Rainer Stamm. Briefe und Besuche von Ghinsberg und Gale hätten ihn die Tragödie verstehen lassen. Nicht allen gelingt dies. Markus Stamms Mutter, heute 95, ist auch nach fast vier Jahrzehnten überzeugt, dass ihr Sohn irgendwann zurückkommt.
«Kürzlich habe ich seit langem wieder von Markus geträumt», sagt dessen Schwester Cornelia Stamm Hurter. «Mit dem Film kam alles wieder hoch.» Die Schaffhauser SVP-Regierungsrätin stört sich daran, dass die Filmemacher die Familie vorab nicht informiert hatten. Sie entdeckte den Trailer in einem Flugzeug zufällig im Unterhaltungsprogramm.
Enttäuscht sind die Stamms auch von Yossi Ghinsberg, zu dem der Kontakt abgebrochen sei, nachdem sein Buch ein Erfolg geworden war. Schlägt er aus dem Tod von Markus Profit? «Nein», sagt Cornelia Stamm Hurter, «aber er ist sicher ein guter Verkäufer seiner selbst.» Rainer Stamm fügt an: «Es ist etwas irritierend, dass Markus im Buch und vor allem im Film als Angsthase und Schwächling dargestellt wird. Yossi müsste es besser wissen.»
Kevin Gale hat auch keinen Kontakt mehr zu Ghinsberg, der heute Unternehmer und ein gefragter Redner ist. Er ist nicht einverstanden, wie er vom Israeli dargestellt wird. In einem langen Brief an Ghinsberg wirft er ihm vor, die Fakten zu verdrehen: Er, Kevin, habe Markus im Dschungel nicht gemobbt, sondern ihn vor der gefährlichen Flossfahrt bewahren wollen. Ghinsberg solle endlich Verantwortung für sein Tun übernehmen. Wie im Abspann des Films steht, schreibt Gale an einem eigenen Buch, das bald erscheinen soll.
Wollen die zwei Männer Abbitte leisten? Weil Markus Stamm fertiggemacht wurde? Weil er zum Dschungeltrip überredet wurde? Weil sie sich im Moment der Gefahr abgespaltet hatten? Weil sie überlebten?
«Yossi und Kevin trifft keine Schuld», sagt Rainer Stamm. «Markus war alt genug, um seine eigenen Entscheidungen zu treffen.» Er blättert in einem dicken Ordner mit Korrespondenz, Amazonas-Karten und alten Fotos seines Bruders. Letztlich habe ihn eine Reihe von Fehleinschätzungen das Leben gekostet. Wie Markus gestorben ist, wird er allerdings nie erfahren. «Wahrscheinlich», sagt Rainer Stamm, «ist er ertrunken.»

 


Markus Stamm (Aequo)


Der Lehrer und Backpacker Markus Stamm (Aequo) während seiner Südamerika-Reise.
Foto: Privatarchiv


Survival-Thriller «Jungle» mit Daniel Radcliffe (2. v.l.) in der Rolle des israelischen Backpackers Yossi Ghinsberg.
Foto: PD