Der Erste Staatsanwalt mit etwas «Puck»

Schaffhauser Nachrichten
Robin Blanck

**SN-Sommerserie: Bank-Geschichten (I), heute: Die Anklagebank mit Peter Sticher, Erster Staatsanwalt**

Wenn Peter Sticher im Kantonsratssaal steht und «Danke» sagt, wird es unangenehm. Mit diesem Wort beendet Sticher, Erster Staatsanwalt des Kantons Schaffhausen, vor Gericht jeweils sein Plädoyer, in dem er die Tat des Angeklagten darlegt und eine Strafe fordert. Busse, Geldstrafe bedingt oder unbedingt, Freiheitsstrafe bedingt oder unbedingt. Doch heute ist kein Angeklagter links in der zweiten Bankreihe, auf der SN-Bank sitzt, aufrecht und wie immer im dunklen Anzug, Peter Sticher, 50, Mitglied der Schneiderzunft und des Lions Club Schaffhausen, FDP-Mitglied, Altherr der Scaphusia, und sagt: «Ja, extrem», wenn man ihn fragt, ob er ein ehrlicher Mensch ist. Etwas später schaut Peter Sticher auf die Fingernägel seiner rechten Hand, wie er es bei Fragen zum Privatleben immer tun wird. «Was mein Laster ist?», wiederholt er die Frage, um Zeit zu gewinnen.
2012 wurden rund 8000 Fälle von der Staatsanwaltschaft erledigt, 6380 Fälle wurden mit einem Strafbefehl erledigt, in 130 Fällen wurde Anklage erhoben und ein Gerichtsverfahren durchgeführt, 1278 Verfahren wurden eingestellt. Nicht lügen, nicht bei Rot über die Strasse, nicht zu schnell Auto fahren, «ich bin ein sehr korrekter Mensch», sagt Staatsanwalt Sticher. Das muss sein, denn die Machtfülle eines Staatsanwaltes ist gross: Er kann Personen jederzeit festnehmen, Häuser und Betriebe durchsuchen lassen, Vermögenswerte sperren und Telefonkontakte rückwirkend auswerten lassen. «Da muss man korrekt sein», wiederholt Sticher. Seine letzte Verkehrsbusse liegt jetzt zwei Monate zurück, als er sein Auto am falschen Ort parkierte, weil es pressierte hatte, als er an einen Handballmatch wollte. «Viel mehr als eine Parkbusse liegt bei mir nicht drin», sagt er, «schliesslich bin ich im Schaufenster.» Und da ist Peter Sticher schon länger: 1990 kam er ans Gericht, 1991 bis 1994 war er Gerichtsschreiber, Kündigung Ende Januar 1994, um auf die Anwaltsprüfung zu lernen. Nach erfolgreichem Bestehen ab 1. Juni 1994 Untersuchungsrichter bis Juli 2003, Staatsanwalt seit August 2003 bis 31. Dezember 2010, Erster Staatsanwalt seit 1. Januar 2011 – Peter Sticher weiss all diese Daten auswendig. In 20 Jahren als Strafverfolger hat er nicht eine Einvernahme durchgeführt, ohne sich vorher genau vorzubereiten. Er sagt: «Ja, ich bin sehr strukturiert.» Eine Person aus seinem Umfeld nennt es «Freude an Details»: Peter Sticher mag Ordnung, egal ob es um das Gesetz oder seinen Schreibtisch geht. Er reagiert immer sofort auf Mails. Und fragt jetzt, vor dem Foto, ob die Krawatte sitzt. Überraschungen mag er im Privaten, «hier drin», sagt er und dreht sich zum Saal um, «eher nicht». Die letzte liegt nur wenige Tag zurück: Dass ein Zuschauer während des Prozesses um Erich S. aufstand und ihn beschimpfte, liess Sticher vollkommen ungerührt am Rednerpult über sich ergehen, die echte Überraschung war der Entscheid es Kantonsgerichts. Unvorbereitet war Sticher aber nicht, für den Fall einer sofortigen Freilassung hatte er bereits eine sauber abgetippte Beschwerde in seiner schwarzen Aktenmappe dabei.

**Vulgo «Puck»**
Trotzdem gehören Unwägbarkeiten zum Beruf, denn auch der Erste Staatsanwalt muss Pikett leisten und wird dann zuweilen von der Polizei zu jeder Tages- und Nachtzeit informiert: Ein Toter in einer Wohnung, Anruf beim Pikett-Staatsanwalt. Mehrere Verletzte bei einem Zugunglück, Anruf beim Pikett-Staatsanwalt. Ein schwerer Raubüberfall, Anruf beim Pikett-Staatsanwalt. Nach einem solchen Vorfall sähen die nächsten fünf bis sechs Wochen völlig anders aus als geplant, erzählt Sticher – und plötzlich schwingt da etwas anderes mit: eine Lust am Unvorhersehbaren. «Das ist schon das Spannende an diesem Beruf», sagt er, und da hört man «Stichi», wie ihn seine Freunde nennen, heraus. Und der in der Studentenverbindung Scaphusia in Anlehnung an Shakespeares «Sommernachtstraum» den Vulgo «Puck» erhalten hat: Die Figur des Puck, ein kleiner Elf, der mit seinen Scherzen das Publikum unterhält, aber auch viel Verwirrung stiftet, passt nur auf den ersten Blick nicht zum ernsten Chefankläger. Sobald Peter Sticher dieses offene, jungenhafte Lachen lacht, ist Puck da. Hauptgrund für den Verbindungsnamen waren aber körperliche Merkmale: Bis ins Alter von 17 Jahren war er nur 1,60 Meter gross, in den Jahren danach ist er noch 18 Zentimeter gewachsen. Und das nicht nur im körperlichen Sinn: Seine Mutter, früher Ärztin, mit der er zweimal in der Woche über Mittag essen geht, sagt manchmal: «Du hast es weit gebracht», Sticher blickt wieder kurz auf seine Finger. «Sind schöne Ferien ein Laster?», fragt er dann. Puck hätte Sticher auch heissen können, weil er in seinen Jugendjahren Eishockey gespielt hat: Überhaupt war und ist Sport für ihn wichtig, Skifahren, Ausdauer, etwa ein Dutzend Mal absolvierte er den Schaffhauser Triathlon und den Transrandenlauf, früher lief er Marathon, seine Bestzeit betrug sehr respektable 3 Stunden 43 Minuten, aber das sei 20 Jahre her, sagt er. Die Staatsanwaltschaft gehört zu den fünf grössten Abteilungen des Kantons, wenn man Peter Sticher, früher Major in einem Panzerbataillon, im Gerichtssaal selbstbewusst sprechen und mit Schärfe beantragen hört, ist man überrascht, wenn er sagt: «Man kann sagen, dass ich einen kooperativen Führungsstil habe.» Ein Mitarbeiter bestätigt das aber, «zuerst wird diskutiert, dann entschieden». Bleibt die Frage nach dem Laster. Peter Sticher verspricht, sich per Mail zu melden. Es ist Puck, der den kurzen Text schickt: «Unterliegt dem Amtsgeheimnis ;-).»

**Zur Person: Peter Sticher, Erster Staatsanwalt**
*Kindheit* An der Steigstrasse, Fussballspielen in der Promenade, Mitglied im Eishockeyclub
*Übernamen* Stichi, Puck
*Erster Berufswunsch* Profisportler
*Werdegang* B-Matur, 2 Jahre Militär, Jurastudium in St. Gallen, Gerichtsschreiber, Untersuchungsrichter, Staatsanwalt, Erster Staatsanwalt
*Laster und Leidenschaften* Sport – aktiv und passiv – ist Peter Stichers grosse Leidenschaft. Das Laster «unterliegt dem Amtsgeheimnis».
(rob)



«Hier drin eher nicht»: Peter Sticher mag Überraschungen im Kantonsratsaal, in dem auch das Kantonsgericht tagt, nicht.
Bild Selwyn Hoffmann